Synästhesie: ein buntes Alphabet!

/

Für manche Menschen ist der Name des besten Freundes hellgrün. Für andere hat die eigene Telefonnummer die Farben des Regenbogens. Das mag für die meisten von Euch seltsam klingen, aber für vier Prozent der Menschen auf der ganzen Welt ist dies eine tägliche Erfahrung, die man als Synästhesie bezeichnet. Menschen mit Synästhesie werden auch als Synästhetiker bezeichnet. Bei ihnen können bestimmte Reize aus dem alltäglichen Leben mehrere Empfindungen auslösen. So kann zum Beispiel das Hören eines bestimmten Musiktons die Wahrnehmung einer bestimmten Farbe auslösen oder das Berühren eines Gegenstands die Empfindung eines Geschmacks bewirken.

Buchstaben und Zahlen können Farben haben

Synästhesie kann in vielen verschiedenen Formen auftreten, die durch das Zusammenspiel von verschiedenen oder der gleichen Sinne (Geschmack, Sehen, Geruch, Berührung und Klang) gekennzeichnet werden. Die häufigste und folglich auch am besten untersuchte Form der Synästhesie betrifft Buchstaben und Zahlen und Farben. Das heißt, Synästhetiker nehmen eine Farbe wahr, wenn sie einen bestimmten Buchstaben oder eine Zahl sehen.

Interessanterweise kann jeder Synästhetiker für ein und denselben Buchstaben eine andere Farbe sehen. So könnte der Buchstabe N für eine Person hellblau sein, während er für eine andere Person lila ist. Jedoch scheint die synästhetische Wahrnehmung über die Zeit hinweg konsistent zu sein, so dass die Person, die den Buchstaben N als lila sieht, wahrscheinlich jedes Mal die Farbe lila wahrnimmt, wenn sie den Buchstaben N sieht.

Sprache und sinnvolle Assoziationen beeinflussen Farb-Buchstaben-Kombinationen

Wissenschaftler begannen im letzten Jahrhundert mit der Erforschung der Synästhesie, um ihre Ursprünge und Merkmale zu verstehen, wie etwa die verschiedenen Arten des Zusammenwirkens von Sinnen. Einige Studien konzentrierten sich auf die möglichen Kombinationen von Buchstaben und Farben, die von Synästhetikern am häufigsten erlebt werden. Solche häufigeren Kombinationen sind wahrscheinlich auf bedeutungsvolle Assoziationen aus der Kindheit zurückzuführen, in der sich synästhetische Assoziationen entwickeln. Beispielsweise nehmen viele weibliche Synästhetiker den ersten Buchstaben ihres Namens als Rosa wahr, was auf die geschlechtsspezifischen Stereotypen zurückzuführen sein kann, wonach Rosa als eine weibliche Farbe und Blau als eine männliche Farbe verstanden wird.

Neben bedeutungsvollen Assoziationen können die möglichen Buchstaben-Farb-Kombinationen auch auf Unterschiede in der jeweiligen Sprache zurückzuführen sein. Zunächst einmal kann das Wort, das zur Beschreibung einer Farbe verwendet wird, die Assoziation zwischen einem Buchstaben und einer Farbe beeinflussen. So nehmen englischsprachige Synästhetiker den Buchstaben Y als gelb und den Buchstaben R als rot wahr, da Y und R im Englischen die Anfangsbuchstaben der Farbnamen yellow (gelb) und red (rot) sind. Die Farbe eines Buchstabens kann auch von alltäglichen Wörtern abhängen, die mit demselben Buchstaben beginnen. So nehmen manche Menschen den Buchstaben D als braun wahr, weil das Wort dog (Hund) mit dem Buchstaben D beginnt und die meisten Hunde braun sind. In anderen Worten: Wenn ein alltägliches Wort durch eine bestimmte Farbe gekennzeichnet ist, kann der erste Buchstabe des Wortes mit der gleichen Farbe in der Synästhesie assoziiert werden.

Hängen die Farben der Buchstaben von der Sprache ab?

Die bisherigen Erkenntnisse stammen vor allem aus Untersuchungen an englischsprachigen Synästhetikern. Synästhesie wird jedoch auch von Menschen erlebt, die andere Sprachen rund um die Welt sprechen. Daher wollten die Wissenschaftler wissen, ob dieselben Faktoren die Buchstaben-Farbkombinationen auch in anderen Sprachen beeinflussen.

In einer kürzlich durchgeführten Studie wurde der Einfluss von Farbnamen und alltäglichen Wörtern auf die synästhetische Erfahrung in sechs ausgewählten Sprachen (neben Englisch) untersucht. Können wir also diese Faktoren als universell betrachten oder sind sie eher sprachabhängig? Die Stärke des Spracheinflusses sowohl von Farbbegriffen als auch von alltäglichen Wörtern war von Sprache zu Sprache unterschiedlich. Im Englischen und Japanischen zum Beispiel hatte der Farbname den stärksten Einfluss auf die wahrgenommene Farbe, während er im Spanischen keine Rolle spielte. Andererseits wirkten sich alltägliche Wörter auf die Farbwahrnehmung im Spanischen aus, nicht aber im Koreanischen; aber auch hier hatten Englisch und Japanisch den stärksten Effekt. Das bedeutet, dass die Art und Weise, in der diese Faktoren die synästhetische Erfahrung beeinflussen, nicht universell, sondern sprachabhängig ist.

Können Farben auch die Wahrnehmung von Buchstaben auslösen?

Das Sehen von Buchstaben kann bei manchen Synästhetikern die Wahrnehmung einer bestimmten Farbe auslösen, aber funktioniert es auch umgekehrt? Vielleicht! Obwohl Synästhetiker den mit einer Farbe assoziierten Buchstaben nicht „sehen“, wenn sie nur die Farbe sehen, haben Wissenschaftler herausgefunden, dass sie den Buchstaben schneller finden, wenn sie dessen Farbe sehen. Sie führten ein Experiment durch, bei dem die Teilnehmer ein Wort ohne Anfangsbuchstaben sahen. Die Teilnehmer mussten den richtigen Buchstaben eintragen, um das Wort zu vervollständigen. Allerdings konnten zwei verschiedene Buchstaben das Wort vervollständigen, sodass sich zwei mögliche Wörter ergaben. Bei einem dieser Wörter handelte es sich um ein häufig verwendetes Wort, wie zum Beispiel das Wort „Brille“, und bei dem anderen um ein weniger häufig verwendetes Wort, wie zum Beispiel das Wort „Grille“ (siehe Abbildung 1). Um das richtige Wort zu finden, wurde den Synästhetikern die Farbe gezeigt, die mit einem der fehlenden Buchstaben (in diesem Fall B oder G) verknüpft war. Die Synästhetiker fanden den Buchstaben bei weniger häufigen Wörtern schneller, wenn sie die mit dem fehlenden Buchstaben verknüpfte Farbe sahen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass Synästhesie teilweise in beide Richtungen funktioniert (Buchstabe → Farbe und Farbe → Buchstabe).

Abbildung 1: Beispiel für die Wörter, die die Teilnehmer sahen. Wenn sie die Farbe Blau sahen, wählten sie schneller den Buchstaben G und bildeten das Wort Grille (ein weniger frequentes Wort im Deutschen).

 

 

 

 

Wir verstehen zwar immer noch nicht genau, warum der Name des besten Freundes eines Synästhetikers leuchtend grün aussieht und seine Telefonnummer Regenbogenfarben hat, aber wir wissen, dass Faktoren wie die eigene Sprache, Einfluss darauf haben können, welche Assoziationen gebildet werden, und dass die Assoziationen in beide Richtungen funktionieren. Der Anblick eines Regenbogens kann sie also auch an ihre Telefonnummer erinnern! Insgesamt bietet die Erforschung der Buchstaben-Farben-Synästhesie den Wissenschaftlern eine großartige Gelegenheit, die Faktoren zu untersuchen, die die Darstellung oder Speicherung von Buchstaben und Zahlen im menschlichen Gehirn beeinflussen. Gleichzeitig spielt die Sprache eine wichtige Rolle: Nur die Forschung, die sich auf mehrere Sprachen und die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ihnen konzentriert, ermöglicht es uns zu verstehen, wie einige Gehirnprozesse auf mehrere Sprachen anwendbar sind und wie einige andere Prozesse sprachabhängig sind.

Autor: Sara Mazzani
Redakteur: Naomi Nota
Niederländische Übersetzung: Elly Koutamanis
Deutsche Übersetzung: Franziska Schulz
Endredaktion: Sophie Slaats