Als ich vor einigen Jahren nach Paris gezogen bin, traf ich zum ersten Mal auf die Französische Sprache. Dort teilte ich ein Appartement mit einem Pariser und war von seiner Sprache fasziniert. Mein Mitbewohner mochte Rap und zeigte mir die Schönheit und Formbarkeit des Französischen. Genau wie andere romanische Sprachen ist Französisch eine nach Silben getaktete Sprache: jede Silbe hat die gleiche Dauer, egal ob betont oder unbetont. Diese Eigenschaft ist das Kernstück des Verlan, ein Sprachspiel das Gesprochenes gegenüber nicht-kennenden Zuhörern unverständlich macht. Im Verlan geht es darum die Silben eines Wortes zu verdrehen und dabei strikten Regeln zu folgen. Zum Beispiel wird français [fʁɑ̃sɛ] (französisch) zu céfran [sefʁɑ̃], und das Gleiche passiert mit Verlan, welches die Umkehrung von l’envers (das Gegenteil) ist.
Das Verlan entstand im pulsierenden Zusammenleben der Pariser Banlieues als Geheimsprache der französischen Subkulturen der 70er Jahre und erlebte einen Durchbruch mit dem Aufkommen der Rap Musik der 80er Jahre. Wie auch andere Slangs soll das Verlan für nicht-kenner unverständlich sein und die kulturelle Identität der Sprecher hervorheben. Nur bestimmte Wörter sind beim Gebrauch getarnt. Dies sind gesetzeswidrige oder riskante Wörter, die in der Öffentlichkeit verborgen bleiben müssen, wovon sich die meisten auf Drogen, Beziehungen, und zwielichtige Situationen beziehen. In diesem Kontext ähneln Slangs auch allgemeinen Verschlüsselungssystemen oder Geheimschriften.
Für einen (Psycho-)Linguist ist es sehr aufregend zu sehen, dass das Verlan nicht nur die Silbenstruktur gewöhnlicher Wörter verändert, sondern auch deren Bedeutung. Alltägliche Wörter erhalten durch die Umkehrung der Silben eine neue Bedeutung, die gleichzeitig auch die Werte der jeweiligen Sprachgemeinschaft reflektiert. Hier ein Beispiel: fou bedeutet Trottel in Standardfranzösisch, aber verlanisiert zu ouf verändert es sich zum Positiven und bedeutet so etwas wie cool, fantastisch, überragend. Demnach ist das Verlan nicht nur zum Verschleiern sondern auch zum Bereichern der Aussagen von Sprechern hilfreich. Wörter im Verlan sind mehr als nur umgekehrte französische Wörter, vielmehr sollten sie als eigenständige Wörter mit eigener Etymologie betrachtet werden.
Slangs sind Hilfsmittel der Gesellschaft. Anhand eines Reports von Alena Podhorná-Polická erhalten wir einen Einblick in deren Gebrauch:
„Es scheint als lernen die Jugendlichen die Verlan Wörter in Bündeln, ohne viel Aufmerksamkeit in deren Bildungsprozess zu investieren. […] Ein junger Migrant wird mehr an verlanisierte Wörter gewöhnt sein als an deren standard französisches Gegenstück, aufgrund der Notwendigkeit sich eher an das soziale Netzwerk anzupassen als an die schulische Autorität.“
In diesem Report sticht die soziale Rolle von Slangs heraus und das Zitat führt zu einem weiteren faszinierenden Aspekt. Wie hängen die verlanisierten Wörter mit ihrem Standard Gegenstück zusammen? Forscher der Psycholinguistik nehmen an, dass Menschen ein mentales Wörterbuch (das mentale Lexikon) haben, in dem jedes Wort einen Eintrag hat. Gibt es dann auch zwei verschiedene Einträge im mentalen Lexikon für femme (Frau) und dessen verlanisierte Version meuf, so wie man es für hund und mund hätte? Oder verdrehen die Sprecher die Standardwörter jedes Mal, wenn sie sie verlanisieren? Häufig vorkommende Verlan Wörter haben wahrscheinlich ihren eigenen Eintrag, da sie öfter gebraucht werden. Aber trifft das ebenso auf Verlan Wörter zu die weniger häufig vorkommen, wie zum Beispiel Wörter die für Rap Songs kreiert wurden?
Siehe da, Verlan wirft spannende wissenschaftliche Fragen auf, bezüglich aller möglicher Arten mit Worten zu spielen wie zum Beispiel die Silben zu verdrehen, rückwärts zu lesen, und Wörter zusammen zu setzen. Wortverbindungen sind interessante Beispiele. Wir gebrauchen sie beim Sprechen häufig als Verben, Adjektive und Nomen. Manche sind sehr alltäglich wie zum Beispiel Parkplatz, Dunkelheit oder Sonnenblume, während andere weniger häufig gebraucht werden wie zum Beispiel Eierschalensollbruchstellenverursacher. Beim Gebrauch solcher Wortverbindungen, genau wie beim Verlan, müssen wir auf unsere Sprachfähigkeiten zurückgreifen falls wir keinen Eintrag im mentalen Lexikon dafür haben. Sprecher bilden solche Verbindungen während dem Sprechen, aufgebaut aus den vorhandenen Einträgen aus ihrem mentalen Lexikon. Jedenfalls geht das ohne jeglichen Lernprozess, denn wie wahrscheinlich jeder schon selbst gemerkt hat, ist das Erlernen eines neuen Wortes zeitaufwändig und mühsam.
Je häufiger ein Wort im Sprachgebrauch vorkommt, desto öfter sind wir ihm ausgesetzt, was das Erlernen dieses Wortes vereinfacht. Wir könnten nun schlussfolgern, dass häufig vorkommende Wortverbindungen oder Verlan Wörter einen eigenen Eintrag im mentalen Lexikon haben und bei Gebrauch direkt daraus abgerufen werden, während seltene Wörter erst während dem Sprechen gebildet werden. Allerdings haben Forscher am Max-Planck-Institut in Nijmegen gezeigt, dass es nicht ganz so einfach ist. Es ist nicht die Häufigkeit der gesamten Wortverbindung die angibt wie schnell und einfach ein Wort aus dem mentalen Lexikon abgerufen werden kann, sondern die Häufigkeit der einzelnen Wortbausteine einer solchen Verbindung. Im Niederländischen zum Beispiel sind Marktfrau und Marktstand gleich häufig vorkommende Wörter. Da aber Frau häufiger vorkommt als Stand, kann Marktfrau schneller abgerufen werden als Marktstand.
Die Frage ist, ob sich das auch auf Verlan übertragen lässt. Spielt die Häufigkeit der Silben aus denen das Wort zusammengesetzt ist eine bestimmte Rolle? Oder ist es mehr die Häufigkeit des umgekehrten Wortes, die festlegt wie einfach das Verlan Wort abgerufen werden kann. Wir kennen die Antworten auf diese Fragen noch nicht, aber es könnte das nächste wissenschaftliche Experiment werden. Oder besser gesagt, das nächste Perimentex!
Lest weiter
– Mehr über die Regeln des Verlan: Link
– Podhorná-Polická, A. (2006). Les aspects stylistiques de la verlanisation. Link
– Bien, H., Levelt, W. J., & Baayen, R. H. (2005). Frequency effects in compound production. Proceedings of the National Academy of Sciences, 102(49), 17876-17881. Link
Autor: Alessio Quaresima
Redakteurin: Naomi Nota
Niederländische Übersetzung: Leah van Oorschot
Deutsche Übersetzung: Natascha Roos
Endredaktion: Merel Wolf