Gerade gestern hat mir jemand einen Flyer für ein unglaubliches Angebot gegeben. Lerne 1000 fremdsprachliche Wörter in einer Woche, von Null an. Der Flyer gab mir wertvolle Tricks um die Aneinanderreihung von Buchstaben – das fremdsprachliche Wort, genauer gesagt – zu behalten und ich war kurz davor das Angebot anzunehmen und mein Niederländisch ein für alle Mal zu verbessern. Später, während ich heim lief, fragte ich mich was der Nutzen davon sei so viele Wörter zu kennen, ohne die Fähigkeit zu haben sie in sinnvoller Weise zusammensetzen zu können. Vielleicht würde ich verstehen, was mich jemand fragt, den Begriff in meinem Vokabular erkennen und dann mit einem anderen Begriff von der Liste antworten. Aber würde das für einer richtige Unterhaltung ausreichen?
Es ist selten, dass man Wörter einzeln hört. Normalerweise erscheinen sie zusammen in Gruppen und ihre Zusammensetzung ist wichtig. Wenn wir zum Beispiel lesen: „der Hund rennt“ müssen wir die Bedeutung von sowohl „Hund“ als auch „rennen“ kennen, um uns das Tier und seine Bewegung vorstellen zu können. Manchmal ist sogar die bestimmte Anordnung bedeutungstragend, wie in „die Maus beißt die Katze“. Weil Wörter die Atome der Sprache sind, müssen wir sie in Sätzen zusammenbauen um die volle Kraft der menschlichen Sprache genießen zu können. Und das macht es kompliziert für meinen 1000-Worte-Vokabular Flyer, besonders während einer echten Unterhaltung!Wenn ein Satz ausgesprochen wird, folgt ein Wort auf das andere und die Lücken, die sie auf gedruckten Seiten voneinander trennen, verschwinden im Fluss der Vokale und Konsonanten, wie die uralte lateinische Inschrift auf diesem Bild. Das ist der Grund warum es uns beim Fremdsprachenlernen schwer fällt, den Beginn eines Wortes vom Ende eines anderen Wortes zu unterscheiden. Zum Glück haben Menschen eine verblüffende Fähigkeit im Sprachfluss ein Wort vom anderen zu unterscheiden, was sich durch mehr Erfahrung mit der jeweiligen Fremdsprache schnell ausbaut. Wir nennen diese Fähigkeit Segmentierung, und sie ist der Kern vielerlei psycholinguistischer Forschung.
Die Magie der Segmentierung ist es, Wörter im Geräuschfluss in Echtzeit zu identifizieren, während unser Gesprächspartner mit uns spricht. Wir erkennen jedes Wort, das ausgesprochen wurde, und suchen in unserem mentalen Lexikon nach dessen Bedeutung (erfahre mehr). Dieser Prozess ist schnell und robust. Es dauert ungefähr 200-300 Millisekunden jedes Wort zu erkennen, was sogar funktioniert, wenn Sprache von Lärm überdeckt wird, wie zum Beispiel in einer Bar. Segmentierung ist eine staunenswerte Fähigkeit und hängt größtenteils von den Kenntnissen der Sprache ab, ist aber auch nicht unabhängig von anderen Aspekten des Sprachgebrauchs. Um zu verstehen welche Wörter ausgesprochen werden, machen wir Gebrauch von Wissen über Sprecherakzent, Körpersprache und letztendlich dem Kontext unserer Unterhaltung.
Was passiert also, wenn wir absichtlich mit unserer Segmentierungsfähigkeit spielen? Nehmen wir zum Beispiel eine Aufnahme eines australischen Sprechers während er das hier ausspricht:
Sie platziert ihr Zwei Lippen auf seine Wange
Man bekommt so etwas wie diese Oszillogramm Abbildung hier. Ein Oszillogramm ist eine bildliche Darstellung einer Schallwelle. Große Ausschläge bedeuten, dass ein Klang vorliegt, während eine horizontale Linie Stille angibt. Im Oszillogramm ist gut zu erkennen, dass die Ausschläge von ‚tulips‘ [Tulpen] und ‚two lips‘ [zwei Lippen] sehr ähnlich sind. Das bedeutet, obwohl es unterschiedliche Worte sind und sogar eine unterschiedliche Anzahl von Worten per Ausschnitt ist, der Klang der gleiche ist. Erst am Ende des Satzes, wenn wir ‚Schreibtisch‘ oder ‚Wange‘ hören, wissen wir mit Sicherheit ob der Ausschnitt in der Mitte ‚Tulpen‘ oder ‚zwei Lippen‘ war. Ohne dieses letzte Wort wäre der Satz ambigue und schwer zu verstehen.
Das obige Beispiel sowie ähnliche Sätze wurden in Experimenten benutzt um zu zeigen, dass merkwürdige Dinge in unserem Gedächtnis passieren, wenn wir ambigue Laute hören, die auf verschiedene Wörter hinweisen könnten.
Um das zu verdeutlichen stellen wir uns einmal vor, was im Gedächtnis und Gehirn des Hörers direkt nach dem Hören eines ambigen Lautes passieren kann. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste, man versteht nur eine der zwei Bedeutungen, die Blumen [Tulpen] oder den Kuss [zwei Lippen], basierend auf der Erfahrung mit den jeweiligen Worten oder einer persönlichen Neigung zu einem Wort über dem anderen (vielleicht arbeitet der Hörer in einem Blumengeschäft). Wenn man am Ende des Satzes realisiert, dass man die falsche Bedeutung gewählt hat, korrigiert man seine Erwartung etwas überrascht. Das ist ein ziemlich rentabler und nachvollziehbarer Ablauf, aber experimentelle Belege sprechen für eine andere Meinung.
Psycholinguistische Forschung zeigt, dass Hörer beide Wörter die zu dem ambigen Laut passen könnten in ihrem mentalen Lexikon aktivieren, und das korrekte erst am Ende des Satzes auswählen, wenn genug Information vorhanden ist und sie sich der korrekten Interpretation sicher sind. Diese Experimente zeigen uns, dass wir zwei Vorstellungen gleichzeitig im Kopf haben, bis eine der beiden als korrekt bestätigt wird. Moment. Das ist cool!
Die Wissenschaft der Worte bietet uns einen faszinierenden Anfangspunkt um die Mysterien der Sprache und die Magie ihres Gebrauchs zu enthüllen. Ein feiner Aspekt den wir im obigen Beispiel nicht explizit genannt haben ist, dass es Hörern oft nicht bewusst ist was zwischen ihren Ohren passiert. Wenn wir die Probanden fragen welche Wörter sie gehört haben, nennen sie nicht das, was nicht in den Zusammenhang passt (Blumen à Schreibtisch, Lippen à Wange). Der Gedanke hat ihr Gedächtnis unbewusst durchquert, nur für den Bruchteil einer Sekunde, und wurde verworfen sobald die aufkommenden Wörter die korrekte Bedeutung aufdecken. Aber beeinflusst es die mentale Vorstellung die wir von der anderen Bedeutung haben? Sind die Tulpen im Beispiel sinnlicher als andere Tulpen? Um diese Frage zu beantworten, schauen wir auf andere Gebiete menschlichen Wissens, die mehr der Kunst und dem Okkult als der Wissenschaft angehören: Poesie und Alchemie.
Wir alle wissen, dass Worte in Händen von Dichtern besonders sind. Sie gebrauchen sie wie rhetorische Stilmittel oder sprachliche Figuren, um Atmosphären und Bedeutungen zu überbringen die außerhalb des sprachlichen Levels liegen, wie zum Beispiel lange Wörter mit weichen Klängen zu benutzen um Ruhe zu erwecken. Sprachtricks bereichern die Erfahrung des Lesers, können aber manchmal auch weitergehend als die Schönheit der Dichtung benutzt werden und in zwielichtige Geschäfte rutschen. Wenngleich die Forscher keine persönlichen Gründe hatten zwei Gedanken zu aktivieren, kann diese menschliche Veranlagung ausgenutzt werden um jemanden mit der mentalen Vorstellungskraft zu überzeugen, oder Bedeutungen innerhalb eines vermeintlich unschuldigen Satzes zu verstecken.
Das ist der Fall bei der Langue des Oiseaux, eine französisch-hermetische Sprache gesprochen von Intellektuellen und Alchemisten in der Moderne (1500-heute). Hierzu muss man sagen, dass beständige Quellen diesbezüglich schwer zu finden sind, und es sogar der Wikipedia Gemeinschaft schwer fällt, solide Literaturhinweise für den Eintrag bereit zu stellen. Wenn es um Esoterik geht ist es oft schwierig historische Fakten von Meinungen und Gerüchten zu trennen. Nichtsdestotrotz ist es ein Fakt, dass die Langue des Oiseaux gebraucht wurde um Doppeldeutigkeiten zu verdecken – und sich daran zu erfreuen. Anders als die anderen Argots (Slangs) – wie das Verlan – war die Langue des Oiseaux eine Geheimsprache die mit den Worten spielte ohne sie zu verändern. In der Tat dreht sich die Langue nur darum, Wörter mit ambigen Klängen zu wählen und die Sub-strukturen innerhalb eines Wortes zu betonen oder zwei Wörter zusammenfügen um ein neues zu bilden. Zum Beispiel:
‘Du siehst ob eine weise Mahlzeit bereitet ist, gesagt ohne Worte‘
kann verstanden werden als:
‘Hier ist eine geheime Nachricht, die die Worte sagt‘
Um hier mitspielen zu können mussten Sprecher ihre Sprachfähigkeiten trainieren und die Mysterien der Langue waren für niemanden zugänglich außer den Eingeweihten. Weiter noch waren die Sätze oft sowohl oberflächlich als auch in versteckter Form undeutlich: Wenn man die schwierige Aufgabe bewältigt hatte die richtigen Doppelbedeutungen zu finden, war die eigentliche, tiefgehende Bedeutung noch immer verborgen, zurückzuführen auf die Vorliebe der Alchemisten für Hermetik und Undurchsichtigkeit. Die Worte waren bereits mit Doppeldeutigkeiten geladen, was eine weitaus engere Verbindung zwischen deren Aussprache und Bedeutung herstellte als wir sie heute empfinden. Wenn man einen Einblick in diese mystische Welt bekommen möchte, bietet diese Website viele versteckte Doppeldeutigkeiten der Langue, jedoch sollten wir es nicht allzu ernst nehmen!
Letztendlich können wir sehen, dass die menschliche Sprache reich an Geheimnissen ist von denen viele noch entdeckt werden müssen. Das faszinierendste an der Wissenschaft ist, wenn sie Phänomene erklärt die aus dem Reich der Magie zu kommen scheinen, und sie so zeigt, dass unser Gehirn kompliziert genug ist um sich alle möglichen übernatürlichen Dinge vorstellen zu können.
Lest Weiter
– Gow Jr., D. W., & Gordon, P. C. (1995). Lexical and prelexical influences on word segmentation: Evidence from priming. Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance, 21(2), 344–359. Link
– McQueen, J., & Gaskell, M. G. (2007). Eight questions about spoken word recognition—Oxford Handbooks. The Oxford Handbook of Psycholinguistics. : Oxford University Press. Link
Pictures
– Scriptio continua via link
– Beispiel two lips/ tulips: Eigenproduktion
Autor: Alessio Quaresima
Redakteurin: Naomi Nota
Niederländische Übersetzung: Leah van Oorschot
Deutsche Übersetzung: Natascha Roos
Endredaktion: Merel Wolf