In der virtuellen Welt kommunizieren lernen

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Die Zeit vor dem Bildschirm spielt im Alltag von Kindern eine immer größere Rolle. Mit der schnellen Entwicklung von Technologie verbringen Kinder nicht nur Zeit am Fernseher und mit Videospielen, sondern auch ursprünglich persönliche Interaktionen, besonders in internationalen Familien, werden durch virtuelle Kommunikation ersetzt. Die Corona Pandemie steigerte den Bedarf an Videoanrufen um mit Familie und Freunden in Kontakt zu bleiben umso mehr. Für meine Tochter und mich wurden Videoanrufe mit der Familie zur täglichen Routine, sodass ich begann mich zu fragen welche Rolle diese Technologie für ihre Sprachentwicklung spielt.

Vorab sollte ich wahrscheinlich sagen, dass ich mehr über die Sprachentwicklung meiner Tochter nachdenke als die meisten Eltern, da sie Englisch, Niederländisch, Slowakisch und ab und zu noch etwas Taiwanesisch zur gleichen Zeit lernt. Das heißt, jedes Mal wenn sie das bekannte ring, ring, ring… aus dem Computer hört, weiß sie nicht, welche Sprache sie jetzt hören wird. Erstaunlicherweise hatte sie bevor sie anderthalb Jahre war bereits gelernt, in welcher Sprache sie mit wem sprechen muss. Vielleicht scheint das nur mir als ihrem Elternteil erstaunlich, wenn man bedenkt dass vier Monate alte Säuglinge aus zweisprachigen Umgebungen bereits zwischen den verschiedenen Sprachen unterscheiden können. Jetzt wo sie fast zwei Jahre alt ist, weiß sie auch wer welche Sprache nicht spricht. Wenn ich mit ihr Slowakisch spreche, liefert sie manchmal direkte Übersetzungen für ihren Vater, um ihn mit dem aktuellen Spiel auf dem laufenden zu halten (obwohl sie noch mehr dazu neigt für ihn zu übersetzen, wenn sie ein Anliegen an ihn hat!). Interessanterweise liefert sie diese Übersetzungen nicht für Ihre Großmutter (welche nur slowakisch spricht) wenn ihr Vater während eines Videoanrufes Englisch mit ihr spricht. Könnte das etwas damit zu tun haben, dass die Interaktion virtuell ist? Ist Kommunikation und Spracherwerb weniger optimal wenn ein Kind nicht physisch mit jemandem interagieren kann, sondern nur virtuell?

In einem früheren Artikel auf dieser Webseite haben wir gezeigt, dass Kinder unter zwei Jahren durch passives Videoschauen schlechter Sprachen lernen als durch persönliche Interaktionen. Das nennt man den “Videodefizit”. Kurz gesagt, live Interaktionen sind reich an sozialen Hinweisen und Reizen und sind besser geeignet zum Lernen, zumal Kleinkinder während dieser Interaktionen aufmerksamer sind. Die größere Menge an Impulsen und erhöhte Motivation die hiermit einhergehen sind essentiell für den Spracherwerb. Interessanterweise kann der Videodefizit (teilweise) überwältigt werden, indem man mit seinem Kind während des Videoschauens interagiert. Es scheint daher, dass soziale Interaktionen den Spracherwerb von Kindern antreiben. Was bedeutet das für virtuelle soziale Interaktionen durch Videoanrufe?

Mehrere Studien zeigen, dass sich Kleinkinder zwischen ein und drei Jahren Vokabular besser aneignen während Videoanrufen in denen (virtuelle) soziale Interaktionen stattfinden, als wenn sie nur passiv Videos schauen. Scheinbar hilft es Kindern den Videodefizit zu überwinden, wenn sie die Möglichkeit haben mit der Person auf dem Bildschirm zu interagieren. Tatsächlich ermöglicht die Interaktion es den Kindern während des Videoanrufs viele soziale Reize aufzunehmen. Entscheidend ist die “soziale Kontingenz”, da der Anrufer auf die Aktionen des Kindes in Echtzeit reagiert und anders herum. Ein synchroner Austausch wenn zum Beispiel das Kind winkt und der Anrufer “Hi” sagt, oder wenn ein neu genanntes Wort des Anrufers wiederholt wird sorgen dafür, dass der Spracherwerb während eines Videoanrufs effektiver ist, verglichen mit passivem Videoschauen. Sehr wahrscheinlich verstärkt dies die Aufmerksamkeit und Motivation des Kindes zu Lernen und zu Interagieren.

In einer Studie lernten Kleinkinder neue Wörter und Aktionen von unbekannten Personen, entweder durch das passive Beobachten einer Person in einem aufgezeichneten Video oder durch einen interaktiven Videoanruf. Eine Woche später erkannten die Kinder die Person aus dem Videoanruf besser. Außerdem hatten sie vom interaktiven Videoanruf mehr neue Wörter und Aktionen gelernt als mit dem aufgezeichneten Video. Um hierzu anekdotische Beweise hinzuzufügen, kann ich bestätigen, dass meine Tochter sich auf viel virtuellen Blödsinn mit ihren Großeltern einlässt, wie zum Beispiel High-five mit dem Bildschirm, ihnen ihre Kuschelkatze zeigen wenn ihre Katze durch den Bildschirm läuft, oder sogar ein Lied wiederholen dass sie ihr gesungen haben. Im Gegensatz dazu zeigt sie nie solche Verhaltensweisen während sie Kinderprogramme schaut. Stattdessen sitzt sie einfach nur still vor dem Computer und starrt voller Bewunderung auf den Bildschirm. Obwohl das wohlverdiente Momente der Ruhe für mich als Elternteil sind, befürchte ich, dass ich vielmehr Bildschirmzeit mit virtueller Interaktion fördern sollte, da das hilfreicher für die Sprachentwicklung und die Beziehung zu ihren Großeltern ist.

Es gibt mehrere Faktoren die beeinflussen, wie sehr sich ein Kind auf einen Videoanruf einlässt. Es wurde gezeigt, dass Kleinkinder Sprache möglicherweise besser durch Videos von bekannten Personen lernen. Meine Tochter verlangt oft, mit “Babka” [Oma auf Slowakisch] zu sprechen, besonders nach einem persönlichen Besuch, und sie interagiert mit ihr während der meisten Zeit des Anrufs. Wenn wir Videoanrufe mit Freunden oder Familie haben, die meine Tochter noch nicht persönlich getroffen hat, ist sie eher schüchtern und verliert das Interesse am Anruf viel schneller. Ich persönlich glaube, dass es noch viele weitere Faktoren gibt, die die Aufmerksamkeit und Sprachentwicklung der Kinder während Videoanrufen beeinflussen, wie zum Beispiel die Menge an Interaktionen und die Art der Interaktionen oder Aktivitäten. Vor einigen Wochen zum Beispiel verlangte meine Tochter mit “teta Soňa” [Tante Soňa] zu sprechen, obwohl wir schon monatelang nicht mehr mit ihr gesprochen hatten. Das war sicherlich eine Lektion für mich, wie sehr ich das Langzeitgedächtnis eines Kleinkindes unterschätzt hatte. Tante Soňa ist Kindergärtnerin und sang während unseres letzten Anrufes viele neue Lieder für meine Tochter. Demnach ist es sehr wahrscheinlich, dass diese spaßige und neue Aktivität sich so gut in ihrem Gedächtnis verankert hatte und es ihr ermöglichte sich auch nach mehreren Monaten noch an Tante Soňa zu erinnern.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Kleinkinder in virtuellen Interaktionen Sprechen lernen können, besonders wenn die virtuelle Welt einladend und stimulierend ist. Obwohl Videoanrufe viele soziale und interaktive Reize beinhalten, werden manche Aspekte der Unterhaltung aus dem wirklichen Leben trotzdem immer fehlen, sogar während des best möglichen Videoanrufes. Tiefe und Bewegung werden zum Beispiel von der Kamera nicht gut aufgenommen. Zusätzlich haben Videoanrufe oft Verzögerungen. Unterhaltungen benötigen präzises Timing, besonders wenn Sprecher sich untereinander abwechseln. Solche Verzögerungen können ziemlich herausfordernd für Kinder sein, die gerade erst damit anfangen an Unterhaltungen teilzunehmen. Obwohl Videoanrufe hilfreicher sind für den Spracherwerb als passives Videoschauen, sind sie (noch) nicht vergleichbar mit Interaktionen aus dem echten Leben. Tatsächlich werden sowohl meine Tochter als auch ich froh sein, die virtuellen Guckguck-Spiele zurückzulassen und zur persönlichen Geselligkeit zurückzukehren, sobald es wieder möglich ist.

Autor: Cecilia Hustá
Redakteur: Melis Cetincelik
Niederländische Übersetzung: Caitlin Decuyper
Deutsche Übersetzung: Natascha Roos
Endredaktion: Eva Poort, Merel Wolf